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Tunnel im Schnee
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Der Sommer war dieses Jahr besonders heiß. Zwar blühten viele Blumen, aber die Bienen konnten wegen der fehlenden Feuchtigkeit nicht die Menge Nektar sammeln, den sie als Vorrat für den Winter brauchten. Trotzdem bildete der Imker an seinem Bienenstand in der Max-von-Müller-Straße einen Ableger, den er gleich neben den anderen Völkern positionierte. „Das ist eine besonders große Weiselzelle. Dieses neue Volk wird einmal viel Honig für mich sammeln,“ murmelte der Imker bei der Arbeit vor sich hin.
Es vergingen ein paar Tage und die Arbeiterinnen im neuen Stock wurden unruhig, stand doch die Geburt der neuen Königin kurz bevor. Zum Empfang wurde nur der beste Honig vorbereitet. Dann war es soweit, die neue Königin schlüpfte. Mit großer Begeisterung und starkem Flügelklatschen wurde sie schließlich begrüßt. „Willkommen, willkommen, liebe Königin!“ „Ich bin Elsa!“ „Und ich bin Pia!“ „Ja, ich bin Bianca!“ „Hurra, hurra! Wir haben eine Königin!“ Alle riefen laut durcheinander. „Bitte seid etwas leiser. Ich bin doch gerade erst geschlüpft. Ich muss mich erst einmal von der Anstrengung erholen.“ Dann wurde es still im Stock. Die Königin kostete den köstlichen Honig. Dabei wurde sie müde und schlief ein. Die Arbeiterinnen bewegten sich ganz leise im Stock. Keiner wollte die junge Königin aus dem Schlaf reißen.
Einige Zeit verging und die fleißigen Arbeiterinnen machten sich schon große Sorgen, weil die Königin so lang schlief. Doch plötzlich bewegte sie sich, streckte ihre Flügel auseinander und rief: „Mmmmmh! Das hat mir gutgetan. Für meinen Hochzeitsflug habe ich jetzt viel Kraft gesammelt. Ich glaube, ich werde gleich losfliegen.“ Bis ihre Arbeiterinnen sich versahen, flog sie schon aus dem Stock.
Mit hoher Geschwindigkeit flog sie in den Himmel hinein. „Ist das ein schöner Tag,“ sprach die Königin, die gerne mit sich selbst redete. „Hoffentlich finde ich einen netten Mann, der zu mir passt.“ Nachdem sie Stunden umherflog, fand sie schließlich den Mann ihrer Träume. Das Hochzeitsritual begann und die Trauung wurde vollzogen. Anschließend flog sie wieder nach Hause zurück. Dort wurde sie mit großem Jubel empfangen. Auf der mittleren Wabe versammelte sich die Königin mit ihrem neuen Volk und sprach: „Meine liebe Familie, ich hatte einen wunderbaren Hochzeitsflug! Jetzt beginnt ein neues Leben. Dazu brauche ich eure Hilfe. „Ja, ja, wir helfen dir,“ riefen sie alle gemeinsam.
Sofort begann die Königin mit dem Legen der Eier. Die Arbeiterinnen teilten sich die Aufgaben im Stock. Während die einen fleißig Nektar sammelten, betrieben die anderen Brutpflege und hielten gleichzeitig ihre Behausung sauber.
Es konnte nicht besser laufen. Das Bienenvolk entwickelte sich prächtig. Doch eines Tages wurde die Königin krank. Sie hatte sich eine Erkältung zugezogen und konnte deshalb nicht mehr für Nachwuchs sorgen.
Das wirkte sich auch auf das Sammeln des Nektars aus. Es waren viel zu wenig Sammelbienen im Volk, so dass der Wintervorrat an Honig nicht ausreichte. Zu allem Überfluss zog der Winter viel zu früh über das Land. Starke Schneestürme pfiffen um den Bienenstock herum. Es schneite und schneite und schneite. Es hörte gar nicht mehr auf. Waren es am Vortag noch 10 cm Schnee, so waren es am nächsten Tag schon 30-40 cm. Es schneite noch tagelang weiter, bis man den Bienenstock gar nicht mehr sah. Er war völlig unter der hohen Schneedecke verschwunden. Das Bienenvolk hatte panische Angst. „Wir müssen was tun,“ sprach Pia zu ihren Schwestern Bianca und Elsa. „Sonst verhungern wir noch.“ „Ja, aber was? Unsere Königin ist noch zu schwach, um uns zu helfen,“ sprach Elsa.
Sie fanden keine Lösung für ihr Problem und so gingen sie schlafen. Mitten in der Nacht wurden sie durch seltsame Geräusche wach. „Hört ihr das auch?“ „Ja. Es klingt so rein und schön. Es scheint, nicht weit weg zu sein. Kommt, wir schauen wo es herkommt.“ Leider war am Ausgang des Bienenstocks mit der Suche schon Schluss. Dichter Schnee versperrte den Weg. „Da kommen wir nicht weiter,“ sagte Bianca etwas ängstlich. „Ich habe mal vor langer Zeit gehört, dass man im Winter einen Tunnel durch den Schnee graben muss, um vorwärts zu kommen,“ meinte Elsa. „Es ist viel zu kalt draußen. Wir werden noch erfrieren.“ „Wir versuchen es einfach. Mehr wie scheitern können wir nicht,“ unterhielten sich die Bienen weiter. „Ich habe mal gehört, dass es unter dem kalten Schnee warm sein soll, Pia.“ „Gut, dann vorwärts! Lasst uns graben.“ Sie kämpften sich durch den Schnee, bis sie ein helles Licht sahen und für sie unbekannte Töne hörten. Mit einem Ruck schoben Sie die letzten Schneereste beiseite und standen mitten im Raum eines anderen Bienenvolkes. Es gab auf beiden Seiten einen Riesenaufschrei. Alle liefen durcheinander und schrien, bis die anwesende Königin laut rief: „Ruhe! Bitte, seid leise. Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr.“ Als sich alle wieder beruhigt hatten, fragte die Königin: „Wo kommt ihr her und was wollt ihr hier?“ Die drei Schwestern schauten sich verdutzt an. Mit zitternder Stimme klagten sie der Nachbarkönigin ihr Leid, dass sie nichts mehr zu essen hätten, dass ihre Königin sehr krank sei und dass sie alle ganz dringend wieder Honig bräuchten, damit ihre Königin wieder gesund werden konnte.
Die Nachbarkönigin überlegte einen Augenblick und sagte dann: „Wir werden euch selbstverständlich helfen und Honig aus unserem Vorrat an euer Volk abtreten, so dass eure Königin schnell wieder gesund werden kann.“ Mit großer Erfahrung delegierte die Königin die Arbeiterin zu den Honigvorräten und brachte einen Teil zum hungernden Volk. Als sich alle mit Honig gestärkt hatten, erholte sich die junge Königin schnell wieder und besuchte das Nachbarvolk um sich für seine Hilfe zu bedanken.
Auf dem Weg dorthin hörte auch sie die schönen wohligen Klänge, die ihr entgegenkamen. Nachdem sie sich bei der älteren Königin für die großartige Hilfe bedankt hatte, fragte sie, was das für schöne Klänge seien und was es mit dem hellen Licht auf sich habe. „Du bist noch jung, meine Liebe! Deshalb kannst du es nicht wissen. Wir feiern Weihnachten. Das habe ich von meiner Mutter gelernt und die von ihrer Mutter. Die hatte es sich von den Menschen abgeschaut, die uns hegten und pflegten. So wurde es von Generation zu Generation überliefert.“ „Und was sind das für schöne Töne?“ „Das sind Weihnachtslieder, die die Menschen am Heiligen Abend singen.“ „Weißt du was? Heute ist Heiliger Abend. Die Menschen feiern Weihnachten und wir auch. Kommt doch vorbei und feiert mit uns!“ „Ja, das wäre schön. Wir kommen gerne, danke.“
Am Abend ging die junge Königin mit ihrem herausgeputzten Volk zu ihren neuen Freundinnen, um Weihnachten zu feiern. Als alle an ihrem Platz saßen, wurde es ganz still. Man hörte keine Flügel mehr summen. Und plötzlich erklang eine wohlige, reine Stimme, die alle Anwesenden in eine feierliche Stimmung versetzte. Die erfahrene Königin sang das Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“, das am Heiligen Abend von Menschen in aller Welt gesungen wird. Es wurde ein langer Abend und alle freuten sich. „Ich werde nächstes Jahr mit meinem Volk auch Weihnachten feiern. Das verspreche ich dir,“ sagte die junge Königin. Gemeinsam verabschiedeten sich die Bienen, was einige Zeit dauerte. Dann gingen sie in ihr Bett und schliefen selig ein. Seit dieser Zeit feierte wieder ein junges Bienenvolk Weihnachten. Und was das Wichtigste ist: Wenn die Bienen mit uns sprechen könnten, dann würden sie uns sicher auch zu ihrer Weihnachtfeier einladen, oder?
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