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Ein Bienenvolk irrt sich
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In einem großen hohlen Baum vor einem Wald hatte sich ein Bienenvolk eingenistet, das den ganzen Sommer fleißig Nektar für den Winter gesammelt hat, damit es nicht verhungerte. Es war bereits Dezember und der Winter zog mit seinen beiden Freunden, dem kalten Wind und dem Schnee, schon früh übers Land. Alle drei sausten sie um den alten Baum umher, in dem die Bienen wohnten, dass man hätte meinen können, sie wollten ihn zum Umstürzen bringen. Im Inneren des Baumes hingen die Arbeiterinnen in einer großen Traube um ihre Königin und wärmten sich gegenseitig. Auf einmal rief eine leise Stimme: „Ich habe Angst. Was pfeift da so laut? Mir ist schrecklich kalt.“ „Das geht vorüber. Es ist nur der Winter mit seinen Freunden. Die haben Langeweile und machen gerade die Gegend unsicher,“ antwortete die Bienenkönigin. „Meine lieben Töchter, bewegt doch die Flugmuskeln etwas schneller, damit unsere liebe Bianca nicht friert.“ Die Bienenkönigin kannte jede ihrer Arbeiterinnen mit ihrem Namen. Sofort bewegten alle die Muskulatur noch schneller und es wurde wohlig warm im Stock. Der Winter mit seinen Freunden hatte sich wieder verzogen und es herrschte wieder Ruhe im Bienenvolk.
Einige Tage vergingen. Es wurde über Nacht ungewöhnlich warm. Die Bienen im Bienenstock wurden unruhig. Keine konnte sich erklären, warum es plötzlich so warm wurde. Die Königin meinte: „Lasst euch nicht beirren. Das vergeht wieder.“ Auf einmal rief die junge Biene Pia dazwischen: „Ich weiß es, ich weiß es!“ „Was weißt du, Pia?“, fragte die Königin erstaunt. „Es ist schon an der Zeit. Die Blumen blühen schon und wir können wieder Nektar sammeln.“ „Nein, nein, nein. Es blühen noch keine Blumen. Glaubt mir, der Winter und seine Freunde haben sich nur im Wald versteckt. Wir müssen noch etwas warten,“ warnte die Königin. „Vielleicht hat unsere Königin recht? Was meinst du, Bianca?“, sagte Pia zu ihr. „Ich glaube auch, dass die Blumen wieder blühen. Pia, wir sollten gemeinsam einen Erkundungsflug machen. Was meinst du?“, sagte Bianca. „Nein, ich trau mich nicht. Dann schimpft bestimmt unsere Königin.“ „Gut, dann flieg ich eben allein. Du wirst mich doch nicht verraten, oder?“, wollte sich Bianca absichern. Pia antwortete ganz verschüchtert: „Nein, das werd ich nicht, versprochen.“
Heimlich entfernte sich die kleine Bianca aus dem Bienenstock. Sie flog über den Wald und über angrenzende Felder hinweg, bis sie in der Ferne etwas leuchten sah. „Da muss ich sofort hinfliegen,“ beschloss sie.
Auf dem Weg dorthin sah sie Bäume mit vielen hell erleuchteten Blüten. Sie konnte sich gar nicht mehr satt sehen. Dann kam sie in ein tiefes Tal. Dort stand an einem großen Platz ein riesiger großer Baum mit Tausenden und Abertausenden schöner hellen Blüten. „Die muss ich sofort probieren,“ dachte sie sich und setzte zur Landung an. Kurz bevor sie auf den Blüten landete, bemerkte sie, dass viele Menschen um den Baum standen. „Um Himmelswillen, die wollen mir den ganzen Nektar wegessen. Das kann ich nicht zulassen. Das muss ich der Königin und meinen Schwestern erzählen,“ sagte sie zu sich selbst. Sofort flog Bianca zurück nach Hause. Dabei bemerkte sie gar nicht, dass es etwas kühler geworden war. Fast außer Atem und mit letzter Kraft landete sie wieder zuhause. Pia erwartete sie schon sehnsüchtigst am Eingang.
Sofort erzählte ihr Bianca, was sie erlebt hatte, und dass sie einen großen Baum mit vielen, vielen hellen Blüten gefunden hatte. „Das musst du sofort der Königin und unseren Schwestern mitteilen,“ meinte Pia. Gemeinsam gingen sie in den großen Raum, in dem sich die Königin und ihre Schwestern aufhielten. Sofort begann Bianca von ihrer Reise und ihren Erlebnissen zu erzählen. Mit einem Schwänzltanz teilte sie ihnen den Standort der Blüten mit. Als die erfahrene Königin das hörte und dabei ihre Arbeiterinnen in heller Aufregung sah, rief sie: „Bitte bleibt hier! Es gibt noch keine Blüten und es kann jeden Moment draußen wieder kalt werden. Bitte hört doch auf mich!“ Keine hörte auf die Königin, sie hatten nur Augen für die Biene Bianca, die mit großem Eifer ihren Schwänzltanz vorführte. Das ganze Volk war begeistert. „Flieg voraus! Zeig uns den Weg! Wir wollen auch dorthin, wo die Blüten sind!“, riefen die Arbeitsbienen durcheinander. Dann beendete Bianca ihren Tanz und rief voller Begeisterung: „Folgt mir. Ich bringe euch hin, und bleibt dicht hinter mir, damit sich keine verirrt!“ Im gleichen Moment schwebte fast das ganze Bienenvolk in die Luft und flog zum Bienenstock hinaus. Die Königin rief nochmals voller Entsetzen: „Bleibt bitte hier! Es gibt noch keine Blüten. So glaubt mir doch, bitte!“ Pia und noch einige andere Schwestern blieben bei der Königin zurück. Pia antwortete: „Liebe Königin, Sie können sie nicht aufhalten, denn sie haben es sich in den Kopf gesetzt, zu den angeblich hellen Blüten zu fliegen, um Nektar zu sammeln. Hoffentlich passiert ihnen dabei nichts.“
Die Arbeiterinnen, angeführt von Bianca, erreichten das Tal, in dem der Baum voller heller Blüten stand. „Da, seht ihr, meine lieben Schwestern, wie ich es euch versprochen habe. Das ist der Baum mit den vielen Blüten, greift zu und lasst es euch schmecken.“ Die Bienen erhöhten ihre Fluggeschwindigkeit, denn jede wollte die erste sein, um den süßen Nektar zu kosten. Als die ersten Bienen auf den Blüten landen wollten, rutschten sie aus und fielen auf den unteren Zweig. Verdutzt sahen sie sich gegenseitig an und begannen einen neuen Anflug. Und wieder rutschten sie von der angeblichen Blüte ab. Sie gerieten in Panik und versuchten es immer und immer wieder. Keine konnte auf den Blüten landen, um den kostbaren Nektar zu ernten. Sie schrien alle durcheinander. „Ich kann nicht landen!“ riefen die einen. „Ich auch nicht,“ riefen die anderen. Wieder andere riefen: „Wo ist Bianca? Sie muss uns helfen.“ Bianca war am unteren Teil des Baumes und versuchte auch, auf den Blüten zu landen, und rutschte dabei immer wieder ab. „Ich kann es mir auch nicht erklären, warum wir uns auf den Blüten nicht festhalten können,“ rief sie ihren Schwestern zu. Nach vielen Versuchen, auf den angeblichen Blüten zu landen, rief Bianca ihren Schwestern zu: „Kommt, wir fliegen nach Hause. Wir schaffen es nicht, Nektar aus den Blüten zu sammeln und es ist kalt.“
Mit letzter Kraft flogen die Bienen nach Hause. Dort angekommen, brachen viele vor Erschöpfung zusammen, denn es war bitterkalt und der Rückflug sehr anstrengend. Sofort wurden die Ankömmlinge mit Honig versorgt. Die Königin beauftragte die im Stock verbliebenen Arbeiterinnen mit ihrer Flugmuskulatur wieder Wärme zu erzeugen, damit es im Bienenstock warm wurde. Es dauerte einen ganzen Tag, bis sich das Volk von den Strapazen wieder erholt hatte und wieder der Alltag einkehrt war.
Nach zwei Tagen kehrte wieder leichte Unruhe im Bienenvolk ein. Man tuschelte unter vorgehaltenem Flügel. Das bekam auch Bianca mit, was ihr gar nicht angenehm war. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und ging zur Königin. „Liebe Königin, es tut mir sehr leid was passiert ist. Es war nicht richtig, dass ich meine Schwestern überredet habe, zu dem Baum mit den vielen Blüten zu fliegen, aber ich weiß auch nicht, warum wir auf den Blüten immer wieder abgerutscht sind und wir daher keinen Nektar ernten konnten.“ „Komm, meine Liebe. Setz dich neben mich hin, dann erzähle ich dir eine Geschichte,“ antwortete die Königin und fuhr fort: „Den Baum mit den leuchtenden Blüten nennen die Menschen Weihnachtsbaum. Der steht jedes Jahr um die gleiche Zeit an diesem Platz. Und jedes Jahr um die gleiche Zeit feiern die Menschen Weihnachten, die Geburt Jesus Christus in Bethlehem. Und was du als helle Blüten erkannt hast, das sind elektrische Kerzen, die hell leuchten.“ „Danke, danke“, sagte die Biene Bianca. „Ich werde jetzt immer auf Sie hören und keine meiner Schwestern zu irgendwas anstiften. Ich verspreche es.“ „Leider hat deine Eigenmächtigkeit viel Nahrung verbraucht. Als du mit deinen Schwestern nach Hause kamst, waren alle erschöpft und sie mussten mit einer extra Ration Honig wieder aufgepäppelt werden. Hoffentlich wird der Winter nicht so kalt und lang wie letztes Jahr. Sonst, glaube ich, wird der Honig nicht für uns alle reichen,“ sagte die Königin zu Bianca. Während sich die zwei noch unterhielten, kam plötzlich der Winter mit seinen Kumpanen aus dem Wald zurück. Der Winter schob grimmige Kälte vor sich her. Der Wind blies mit starken Böen um den Baum und der Schnee ließ schwere Schneeflocken auf den Baum fallen. Das alles konnte der Baum nicht mehr verkraften und er brach in sich zusammen. Das Bienenvolk lag zur Hälfte frei. Die Bienenkönigin rief ihrem Volk zu: „Hängt euch noch enger aneinander, dass keine erfriert.“ Sie selbst hing selbstlos am äußeren Rand der Traube, um mit ihren Arbeiterinnen Wärme zu erzeugen. „Jetzt ist alles aus,“ dachte sie sich. „Ich kann mein Volk nicht mehr retten!“ Zur gleichen Zeit kam ein Imker am Waldrand vorbei. Er hatte von Weitem das Umstürzen des Baumes gesehen. Er ging zu dem Baum und sah das Bienenvolk darin. Sofort lief er nach Hause, holte eine Beute (Bienenkasten) und legte das frierende Volk hinein. Seitdem sammeln die Bienen als Dank jedes Jahr einen großen Teil ihrer Ernte für den Imker, der ihnen damals das Leben gerettet hatte.
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