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Die Bescherung im Rathaus
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Die kleine Enkelin des Bürgermeisters klopfte an seine Tür. „Herein!“ Das Mädchen im weißen Kleid öffnete vorsichtig die Tür und schaute in den schlicht ausgestatteten großen Raum hinein. „Gott sei Dank! Es ist niemand mehr da außer Opa,“ rief das Mädchen in das Zimmer. Der alte Herr hob den Kopf und lächelte kurz. Dann vertiefte er sich wieder in seine Arbeit. „Ooopaaa, willst Du nicht zu uns herüberkommen? Wir sind gerade dabei, den Weihnachtsbaum zu schmücken.“ Über das Gesicht des Mannes hinter dem Schreibtisch huschte ein Lächeln, als komme plötzlich eine andere frohe Welt in sein Zimmer hereinspaziert. Er erhob sich, ging zu seiner Enkeltochter, reichte ihr die Hand und ging mit ihr nach nebenan in den Sitzungssaal. Und dann stand der Mann Hand in Hand mit seiner Enkelin vor dem wunderschön geschmückten Weihnachtsbaum, begutachtete das Lametta und die bunten Kugeln, zupfte selbst an dem Baum noch etwas herum und sagte: „So einen großen und schön geschmückten Baum hab ich ja noch nie gesehen!“ Dabei flossen dem Mann ein paar Tränen über das Gesicht und es kamen ihm seine Jugendtage wieder ins Bewusstsein. Er erzählte seiner Enkelin von seinen eigenen Weihnachtsfesten, die er als junger Mann immer auf dem Berg in einer Hütte bei Eis und Schnee und grimmiger Kälte verbracht hatte und dass er sich jedes Jahr zu Weihnachten wieder daran erinnerte.
Anschließend kehrte er wieder an seinen Schreibtisch zurück und sprach zu seiner Enkelin: „Mein liebes Kind, ich habe noch einige hohe Amtsgeschäfte zu erledigen.“ Dabei schaute er aus dem Fenster, wo er bei starkem Schneefall den Christbaumverkäufer auf dem Christkindlmarkt sah und wie mühsam er dieses Jahr seine Bäume zu verkaufen versuchte. Es war Tradition, dass die Gemeinde den Christbaum bei ihm kaufte. Dabei merkte er, dass bei dem Christbaumverkäufer dieses Jahr so gar keine rechte Weihnachtsstimmung aufkommen wollte. „Die großen Bäume, die jedes Jahr so begehrt waren, sind dieses Weihnachten gar nicht zu verkaufen,“ erzählte ihm der Verkäufer. Von den hohen Herrschaften bis zum einfachsten Mann habe man dieses Jahr nur kleine Bäume gekauft.
Ein paar Tage vor dem Heiligen Abend sammelte die Frau des Bürgermeisters wieder Unmengen Süßigkeiten, Äpfel, Nüsse und viele schöne Spielsachen, um sie dann am Weihnachtstag, wie jedes Jahr, im Rathaus an die armen und bedürftigen Familien mit Kindern im Auftrag des Christkinds zu verschenken, um in den Herzen der Menschen die richtige Weihnachtsstimmung hervorzuzaubern.
Die Frau des Bürgermeisters ging also in das Amtszimmer und bat ihren Mann die Arbeit am Schreibtisch niederzulegen, denn es war wieder soweit. Wie jedes Jahr stand die Weihnachtsbescherung für die armen Familien mit ihren Kindern in der Gemeinde an. Sie warteten schon voller Sehnsucht vorm Rathausplatz. Der Bürgermeister begab sich an das Fenster, erschrak und sagte zu seiner Frau: „Jedes Jahr werden es immer mehr Familien, die wir unterstützen müssen!“ Und seine Frau nickte nur. Dann gingen sie gemeinsam vor das Rathaus und begrüßten die Menschen mit den Worten „Frohe Weihnachten!“ Alle klatschten voller Freude. Die Frau des Bürgermeisters sah, dass es stark schneite und die Kinder mit ihren Eltern froren. Kurzerhand bat sie alle, doch ins Rathaus einzutreten. „Aber nicht so schnell,“ rief sie ihnen noch zu. Die Kinder wollten so schnell wie möglich ins Sitzungszimmer, das im ersten Stock lag. Viele wussten noch vom Vorjahr, wo der große schöne Weihnachtsbaum mit den vielen Geschenken stand.
Vor dem Sitzungssaal mussten alle Kinder leise sein, um das Christkind nicht zu verscheuchen. Man hörte ein leises Gepolter durch die geschlossene Türe. Dann war alles still. Ein Kind fragte mit leiser Stimme: „Ist das Christkind schon da? Wann ist es soweit? Können wir schon reingehen? Hat es für uns auch viele Spielsachen gebracht?“ „Ich bin mir sicher, dass jedes Kind was bekommt,“ sagte die Frau des Bürgermeisters. Gleichzeitig legte sie ihr Ohr an die Tür und meinte: „Ich glaube, das Christkind war schon da. Wir können jetzt alle reingehen.“ Die große Doppeltür des Sitzungssaals wurde geöffnet. Ein helles Licht strahlte ihnen entgegen und ein süßer Duft von Lebkuchen und Plätzchen lag in der Luft, wie man es nur von der Weihnachtsbäckerei her kannte. Sofort stürmten die Kinder hinein. Auf einmal blieben alle stehen und waren ganz still. Vor ihnen stand ein großer strahlender Christbaum und darunter lagen viele Geschenke. Die Kinder fingen an, laut durcheinander zu rufen: „Das Christkind war da! Seht nur die vielen Geschenke! Dort drüben, Maria und Josef mit dem Jesuskind, das in der Krippe liegt, und die Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland.“ Ein anderes Kind rief: „Seht nur da! Plätzchen und Lebkuchen!“ Bevor die Kinder ihre Geschenke bekamen, sangen sie mit ihren Eltern gemeinsam das Lied „Oh du fröhliche, oh, du selige“.
Während die Kinder ihre Geschenke auspackten, bemerkten der Bürgermeister und seine Frau, dass der „Geist der Weihnacht“ in den Herzen der Eltern noch keinen Platz gefunden hatte, denn sie sahen so traurig aus. Nachdem der Bürgermeister die Eltern gefragt hatte, was sie für Sorgen hätten, teilten sie ihm mit, dass sie dieses Jahr kein Geld für einen Weihnachtsbaum hätten. Da fiel ihm wieder der Baumverkäufer am Kapellenplatz ein. „Machen Sie sich keine Sorgen,“ sagte er. „Ich werde Ihnen allen helfen. Gehen Sie mit ihren Kindern nach Hause und feiern Sie Weihnachten,“ sagte er. „Ich kümmere mich darum.“
Die Eltern machten sich nach der Bescherung mit ihren Kindern durch die tiefverschneiten Straßen auf den Weg nach Hause. Als sie daheim ankamen, fanden alle Familien einen schönen großen Tannenbaum vor der Haustüre. Der Baum wurde von allen Familienmitgliedern geschmückt und es kehrte der Weihnachtsfrieden ein.
Schließlich sangen alle das berühmte Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“. So machte das Christkind dieses Jahr wieder alle Menschen in der Gemeinde glücklich. Nun konnte auch der Bürgermeister mit seiner Familie Weihnachten feiern und für einen Augenblick seine Amtsgeschäfte vergessen. Dabei dachte er ganz selig an sein eigene Weihnachtsfeste zurück, als er noch so klein wie seine Enkelin war.
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