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Der verlorene Schuh
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Am Turnplatz an der Landshuter Straße in Rottenburg lebte seit vielen Jahren gleich hinter dem Turnerdenkmal in fünfzig Zentimetern Tiefe eine junge Tausendfüßlerfamilie: Vater Fritz, Mutter Helena und ihr zehnjähriger Sohn Max. Der Vater war bei der Stadt angestellt und hatte die Aufgabe, von März bis Oktober den Turnplatz von Blättern, heruntergefallenen Früchten und Moos frei zu halten. Im Winter hielt die ganze Familie Winterschlaf.
„Es ist wieder soweit,“ sprach der Vater zu seiner Frau Helena. „Die Nächte werden länger und kälter. Der Turnplatz ist sauber und für den Winter bereit.“ „Ist gut,“ antwortete seine Frau. „Ich werde dann unsere Betten für den wohlverdienten Winterschlaf herrichten. Max komm rein! Wir müssen schlafen gehen,“ rief sie ihrem Sohn zu, der immer noch neben dem Denkmal spielte. Max aber dachte nicht daran, ins Bett zu gehen, und spielte munter weiter. Nach kurzer Zeit rief die Mutter ihrem Sohn nochmals und energisch zu: „Max, komm endlich! Dein Bett ist schon hergerichtet.“ „Ja, ich komm ja schon,“ antwortete Max und krabbelte mit seinen tausend Füßen schnell in die Wohnung hinunter. Die Mutter erschrak, als sie Maxis Schuhe sah. „Wie sehen nur deine Schuhe und deine Füße aus?“ fragte ihn seine Mutter Helena. „Untersteh dich! Geh mir damit nicht ins frisch gemachte Bett! Hier hast du frisches Wasser und einige Handtücher. Wasche deine Füße gründlich und dann putzt du alle deine Schuhe noch sauber!“ Als Max mit der Reinigung fertig war, fiel er todmüde ins Bett und schlief sofort ein. Seine Mutter konnte ihm nur noch einen Gutenachtkuss geben. Dann ging sie mit ihrem Mann auch ins Bett. So verstrichen einige Wochen und in Rottenburg zog der Winter ein. Es hörte gar nicht mehr auf zu schneien und so lagen bald 30 cm Schnee auf dem Turnplatz. Bei der Tausendfüßlerfamilie war alles ruhig. Vater, Mutter und der kleine Max schliefen fest. Eines Tages fiel ein Lichtstrahl auf das Bett von Max, der dadurch wach wurde. Er ging irritiert zu seinen Eltern ins Schlafzimmer, rüttelte an seiner Mutter und fragte: „Müssen wir wirklich schon aufstehen? Ich bin doch noch sooooo müde.“ Die Mutter rührte sich nicht und der Vater schlief auch tief und fest. Beide merkten nicht, dass der kleine Max vor ihrem Bett stand. Als das Licht immer stärker wurde, da wurde Max neugierig und zog sich seine 1000 Schuhe an, was natürlich einige Zeit in Anspruch nahm. Dann schlängelte er sich durch den kalten, hell erleuchteten Gang, bis er an der Oberfläche ankam. Im ersten Moment sah er gar nichts. Seine Augen brauchten einige Zeit, bis sie sich an das helle Licht gewöhnten. „Ist das schön,“ sagte er und wurde immer neugieriger. Er lief durch den tiefen Schnee bergab durch die Marktstraße, bis er an einen großen Platz kam, um den viele helle Lichter angebracht waren. So etwas hatte er noch nie gesehen. Seltsame Düfte, die er alle nicht kannte, wehten um den Platz. Es war sehr anstrengend, durch den tiefen Schnee zu laufen, wenn man so viele Beine hatte wie der kleine Max. Er lief weiter bis zur Mitte, wo ein großes Podium stand, auf dem kleine Kinder gerade ein Gedicht zum Besten gaben. Die Menschen drängten sich alle um die Kinder und klatschten und jubelten. Max bekam es jetzt mit der Angst zu tun. Er hatte Mühe, vorwärts zu kommen, ohne dass ihm jemand auf seine Füße trat. Keiner nahm Rücksicht auf ihn. Endlich hatte er es geschafft, auf die andere Seite zu kommen. Max war ganz außer Atem. „Jetzt aber nichts wie heim,“ dachte er sich und lief, was seine Beine hergaben. Zuhause angekommen, wartete seine Mutter schon auf ihn: „Wo warst du denn, mein Kind? Dein Vater und ich haben uns schon große Sorgen um dich gemacht. Bist Du gesund? Fehlt dir was? Wir sind wach geworden, weil die Tür offenstand und es plötzlich bitterkalt wurde. Dabei stellten wir fest, dass du nicht mehr in deinem Bett lagst. Dein Vater machte sich sofort auf den Weg, um dich zu suchen. Wo warst du denn, mein Liebling?“ „Ich wurde wach und es war plötzlich so hell. Da dachte ich, ich muss jetzt aufstehen. Ich ging hinaus und schaute nach, woher das helle Licht kam. Dabei kam ich an einem großen Platz vorbei, wo viele Lichter leuchteten und viele Menschen waren. Ich hatte sehr große Angst, Mama,“ sagte Max zu seiner Mutter. „Weißt du, mein lieber Junge, die Menschen feiern um diese Zeit immer das Weihnachtsfest und veranstalten jedes Jahr auf dem Kapellenplatz den Christkindlmarkt.“ Die Kindergartenkinder und der Männergesangsverein singen schöne Weihnachtslieder und die Stadt organisiert jedes Jahr eine große Verlosung. Du hättest wirklich keine Angst haben brauchen. Komm her! Ich zieh dir jetzt deine Schuhe aus. Du frierst doch sicher. Geh gleich wieder ins Bett und schlaf weiter,“ sagte seine Mutter zu ihm. Als die Mutter fast alle Schuhe ausgezogen hatte und sie ins Schuhregal stellte, merkte sie, dass noch ein Platz frei war. Sie zählte die kleinen Schuhe und stellte fest, dass es nur 999 Schuhe waren. Ein Schuh fehlte also. „Max, du hast einen Schuh verloren. Weißt du vielleicht noch, wo?“ „Nein, ich habe nichts bemerkt! Aber ich glaube, es war auf dem großen Platz, als ich schreckliche Angst vor den vielen Menschen hatte und weggerannt bin.“ „Das macht nichts, meine Junge. Ich schick Papa, wenn er heimkommt sofort hinunter, dass er deinen Schuh sucht. Jetzt schlaf und träum schön! Papa wird ihn schon finden!“ Als der Vater heimkam, freute er sich, dass Max wieder zuhause war. Seine Frau erzählte ihm von seinem Erlebnis am Kapellenplatz, wobei sein Sohn einen seiner Schuhe verloren hatte. „Ich werde mich sofort auf den Weg machen und den Schuh suchen,“ betonte der Vater. Nach zwei Stunden kam er wieder nach Hause und berichtete seiner Frau Helena, dass er wegen des starken Schneefalls die Suche abbrechen musste. Am nächsten Morgen ging der Vater nochmals zum Kapellenplatz, um den verlorenen Schuh von Max zu suchen. Seine Kollegen vom Bauhof waren gerade dabei, die Weihnachtsbuden wieder abzubauen. Er fragte sie, ob ein Kinderschuh gefunden worden sei. Sie antworteten: „Nein, aber versuch‘s doch mal auf dem Fundamt im Rathaus.“ Er suchte noch eine Weile weiter, doch es war vergebens. Alles hatte der Vater abgesucht, aber keinen Schuh gefunden. Schließlich begab sich Maxis Vater ins Rathaus, das sich gleich gegenüber befand, und fragte, ob gestern am Christkindlmarkt ein Schuh gefunden worden sei. Sein Sohn habe nämlich einen verloren. Der Kollege hinter der Theke erwiderte. „Ja, ein Kinderschuh wurde gefunden und zwar auf der Landshuter Straße Richtung E-Werk.“ „Gott sei Dank, ich bin überglücklich“, sagte er. Der Vater musste nur noch eine Empfangsbestätigung unterschreiben. Dann konnte er auch schon mit dem Schuh nach Hause gehen. Seine Frau Helena freute sich, als ihr Mann nach Hause kam und ihr den Schuh entgegenhielt. „Jetzt können wir wieder beruhigt ins Bett gehen und unseren Winterschlaf fortsetzen“, sagte sie. So vergingen wieder einige Wochen und der Frühling breitete sich über der Stadt aus. Als Max aufwachte, sagte er zu seinen Eltern; „So gut wie diesen Winter habe ich noch nie geschlafen. Ich habe Hunger. Was gibt es zum Frühstück? Ich möchte am liebsten sofort zum Spielen gehen.“ Max erinnerte sich nicht mehr daran, dass er im Winter wach geworden war und einen Ausflug zum Christkindlmarkt gemacht und dabei einen Schuh verloren hatte. Nein, er dachte, er hätte das alles nur geträumt.
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